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Respekt-Coaches-Mitarbeiterin berichtet

Workshop-Reihe zum rassistischen Anschlag am OEZ in München

Im Rahmen des Bundesprogramms Respekt Coaches wurde der Anschlag am Münchener Olympia-Einkaufszentrum von 2016 behandelt. Nach insgesamt 54 Stunden Bearbeitung der Thematik kamen 106 Schülerinnen und Schüler zum Schluss, dass der Anschlag kein Amoklauf war, sondern ein rechtsmotiviertes Attentat. Fatma Zan, Respekt Coachin in München, berichtet über die von ihr organisierte Workshop-Reihe.

Abbildung zeigt eine junge Frau.
Fatma Zan ist seit 2019 im Bundesprogramm Respekt Coaches des Jugendmigrationsdienstes (JMD) in München aktiv.

Das Attentat in unseren Köpfen

Am 22.07.2016 wurden neun Menschen mit Migrationshintergrund von einem Attentäter am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) ermordet. Wenn wir über rechtsradikale Anschläge in Deutschland sprechen, reden wir über Halle, Hanau, den Mord an Walter Lübcke und den NSU. München wurde lange Zeit nicht erwähnt, weil er in vielen Köpfen – lange Zeit auch politisch und rechtlich, und so habe ich es auch bei meinen Erwähnungen in Schulen mitbekommen – als Amoklauf in Erinnerung geblieben ist.

Warum war es wichtig, gerade diesen Anschlag an der Schule aufzuarbeiten? Die Faktoren, die bei dem Fall eine Rolle gespielt haben, waren greifbar für die Schülerinnen und Schüler. Der Anschlag fand hier in München statt, viele kennen sich leider mit Mobbing aus, zocken selbst abends am PC (ein Thema, das in diesem Fall im Zusammenhang mit der Radikalisierung stand) und manche waren selbst schon mal am OEZ. Zuletzt: Die Opfer waren überwiegend in ihrem Alter. Ziel der Workshop-Reihe war es, die Signale von Mobbing und Radikalisierung zu erkennen, darauf reagieren zu können und die Tat richtig einzuordnen. Die Workshops fanden im Schuljahr 2021/22 mit vier 11. Klassen der Dieter-Hildebrandt-Wirtschaftsschule statt, mit Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren.

„Was mich zum Nachdenken gebracht hat, war, dass so eine Person sich unmittelbar in der Nähe befinden konnte und es auch uns treffen hätte können.“

Im Workshop der HEROES ging es um die Reflexion von „Männlichkeit“. 

Den Auftakt der Workshop-Reihe machte das Thema (Toxische) Männlichkeit und Radikalisierung. Grund dafür war, dass der Attentäter in seiner Schulzeit von zwei Mädchen mit den Worten „Du bist kein Mann“ geschminkt worden war. Ich habe daher die HEROES eingeladen, um mittels Rollenspielen darüber zu sprechen, was Männlichkeit ausmacht und weshalb Rechtsradikale das Gefühl haben, „die deutsche Frau vor dem Ausländer schützen zu müssen“.

 

Wie schnell kann man selbst radikalisiert werden?

Manchmal hilft es, Erfahrungen in einen geschützten Rahmen am eigenen Leib zu machen, um in Zukunft davor gewappnet zu sein. Gemeinsam mit INSIDE OUT e.V. wurde in den Klassen eine Radikalisierung simuliert: Zunächst wurde den Teilnehmenden ihre Persönlichkeit genommen (durch gleiche Kleidung, das Ersetzen des Namens durch eine Zahl). An fünf Stationen mussten sie ethisch-moralische Fragen beantworten, wobei die Lösungsmöglichkeiten immer radikaler wurden, bis sie zuletzt gegeneinander und mit fiktivem „tödlichem Ausgang“ antreten mussten. Das Ziel war ein Versprechen (hier: Geld), das sie am Spiel-Ende, wie bei einer tatsächlichen Radikalisierung, nicht erhalten haben. So blieb nur die Enttäuschung.

In der Nachbereitung haben wir geschaut, wie der Täter sich im Internet radikalisiert hat. In der Klasse wusste niemand, dass der Attentäter von Utøya und Oslo sein Vorbild war. So staunten viele, als sie erfuhren, dass auch er ein Manifest geschrieben und den Tag des Attentats auf den 22.07. gelegt hatte, weil fünf Jahre zuvor der Anschlag in Norwegen verübt worden war.

„Was mich zum Nachdenken gebracht hat: Wie die Familie des Täters heute lebt und wie sie damit umgehen, dass ihr Sohn so eine Tat begangen hat. […] und wie es den Opferfamilien heute ergeht.“

Bei einer Radikalisierungs-Simulation wurde den Teilnehmenden ihre Individualität genommen.

 

Verschiedene Rollen bei Mobbing

Beim Thema Mobbing kennen wir oft nur Täter und Opfer. Gemeinsam wurde erarbeitet, welche weiteren Rollen es geben kann: Die, die das Mobbing erdulden, verstärken, verteidigen usw. Der Attentäter in München wurde vor allem zwischen der 6. und 8. Klasse gemobbt, hat Nackenklatscher bekommen oder es wurde sich über sein Stottern lustig gemacht. Mobbing war ein wichtiger, wenn auch nicht der ausschlaggebende Faktor für die Radikalisierung. Durch den Workshop hat die Klasse mitgenommen, welche Handlungsmöglichkeiten es gibt. Zum Beispiel, dass Schülerinnen und Schüler sich zusammentun, an Vertrauenslehrkräfte und Schulsozialarbeit wenden können.

„Meine größte Frage war, wie sowas in München passieren konnte […] Und was man daraus lernt, ist, dass man aufpassen muss, wie man mit der Person gegenüber umgeht.“

Bedeutung von Fake News

Mit Studio im Netz (SIN) lernten die Teilnehmenden mehr über Fake News und welche Folgen sie 2016 hatten. So gab es 72 angebliche Tatorte und zahlreiche nicht verifizierte Bilder, die auf Twitter und Facebook geteilt wurden.

In dem Rahmen haben wir den Jugendlichen auch Handwerkszeug zur Quellenüberprüfung mitgegeben. Wie hilfreich das war? Anfang Februar wurde ein vermeintlicher Amoklauf an einer Schule in Hamburg auf TikTok verbreitet. Eine Schülerin schrieb mir, ob ich es mitbekommen hätte. Als ich fragte, wie sie darauf reagiert habe:

„Ich habe es nicht weiterverbreitet und abgewartet, bis seriöse Quellen was dazu schreiben.“

Perspektiv-Wechsel zu den Hinterbliebenen

Wenn wir an schreckliche Attentate jeglicher Art denken, denken wir selten darüber nach, wie es den Angehörigen der Opfer Jahre später geht und wie die Anschläge ihr Leben verändert haben. Nachdem wir uns monatelang mit dem Täter und der Radikalisierung beschäftigt haben, wollte ich die Perspektive wechseln und den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit geben, zu erfahren, welche Folgen die Tat für die Opferfamilien hatte.

Dafür durfte ich Gisela Kollmann, die Großmutter des ermordeten Guiliano Kollmann (19), zu einem Gespräch einladen. Die Klasse war ganz gespannt und hörte gebannt zu, wie es Frau Kollmann heute, fast sechs Jahre nach der Tat, geht. Sie kann keine U-Bahn fahren, befindet sich immer noch in Therapie und sie besucht Guiliano fast täglich an seinem Grab. Enttäuscht ist sie von der Stadt und der Polizei, die nicht ausreichend auf ihre Bedürfnisse eingegangen seien, sei es zum Beispiel, die Gedenkfeiern angemessen zu veranstalten. Die Klasse war nach dieser Gesprächsrunde sehr berührt. Zum Schluss kam eine Meldung aus der Klasse: „Nochmals mein Beileid und Respekt, dass Sie die Kraft haben, hier zu sein und mit uns sprechen können.“

„[…] tatsächlich waren wir alle nach dem Gespräch mit ihr sehr geflasht. […] Wir haben uns gemeinsam Gedanken darüber gemacht und sind dann zum Entschluss gekommen, dass es durchaus wichtig ist, dass man Genaueres erfährt in der Zukunft und sich dafür einsetzt. Es darf nicht mehr passieren, dass Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Aussehen, Hautfarbe und Religion erschossen oder abgestochen werden.“

Am letzten Schultag bedankte sich eine Schülerin bei mir mit den Worten: „Ohne Sie hätte ich vergessen, dass es diese Tat überhaupt gab.“ Und damit diese Tat weiterhin nicht in Vergessenheit gerät, wird sie auch im neuen Schuljahr Erwähnung finden, denn #erinnernheißtverändern.

 

Ein Beitrag von:
JMD München (IN VIA), Servicebüro Jugendmigrationsdienste / Fotos: JMD München (IN VIA)
Veröffentlicht: 13.09.2022

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